Burnout ist grausam (8. Teil)

Chris Marty

Chris Marty,

16. August 2015
Geschichten

Burnout ist grausam (8. Teil)

Die ersten Tage der Sommerferien 1988 verliefen ziemlich ruhig. Ich war total ausgelaugt, lag viel herum und hatte überhaupt keinen Antrieb etwas zu tun. Am Sonntag spürte ich plötzlich stärkere Depressionen und wie ich in ein Loch zu stürzen begann. Am Montagmorgen kam dann der Anruf meines neuen Homöopathen. Er teilte mir mit, jemand hätte ihm abgesagt, und er hätte jetzt Zeit, wie es bei mir morgen Dienstag aussehen würde? Ich war hocherfreut und ging am Dienstag hin. Dieser Dienstag war der Start eines langen, tiefen Abstiegs, der Beginn eines Soges in die Tiefen der Seele. - Der Arzt war eine angenehme Erscheinung, hörte aufmerksam zu, ...

... machte Notizen, gab mir Ratschläge und fühlte sich in meine Situation ein. Bevor er mir ein hochdosiertes homöopathisches Mittel verschrieb, stellte er mir ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis für unbestimmte Zeit aus. Ich war erleichtert! Jetzt konnte ich mir Zeit zur Erholung nehmen. Nach zwei Stunden Gespräch, verabschiedete ich mich, kam aber nur noch bis zur Türe und brach zusammen! Ich konnte nicht mehr zum Auto gehen, geschweige denn Auto fahren. Ich rief meine Eltern an, die mich sofort abholten. Das Auto musste ich in der blauen Zone stehen lassen mit einem Zettel hinter der Windschutzscheibe, dass ich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr fahren könne. 

Es folgte ein langer Gang nach Canossa und ein tiefer Fall! Es war wie bei einem Herzinfarkt: Dieser tritt meist auch erst nach einer Ruhephase von drei bis vier Tagen ein. Darum: Lieber zuerst ausspannen und erst dann in ferne Länder in die Ferien verreisen. 

Am Abend war ich dann wieder in der Lage Auto zu fahren, und konnte mein Auto holen. Die Polizei hatte Nachsicht und brummte mir nur vierzig Franken Busse auf. Ich fuhr nach Hause. Am nächsten Tag war ich noch matter und schaffte kaum noch den Weg vom Schlafzimmer in die Küche. Ich musste mich an den Wänden festhalten, um nicht hinzufallen, so schwach und so «dusslig» im Kopf war mir. Ich bekam starke Magenkrämpfe und konnte nur noch gebückt gehen und mich von einem zum anderen Ort schleppen. Zudem stellten sich ungeheure Ängste ein! Zuerst war es nur die schreckliche Angst chemische Medikamente schlucken zu müssen, die mich neutral stellen sollten, dann kam eine nicht mindere Höhenangst dazu. Wir wohnten im ersten Stock. Es war mir unmöglich ans Fenster zu treten und hinunter zu schauen. Ich bekam dermassen starke Panik, dass ich fast hinuntergesprungen wäre. Ich musste mich auf den Boden legen und warten bis die Attacke vorüber war. Während diesen Momenten hatte ich mich nicht mehr im Griff, nahm nicht mehr wahr, was um mich herum geschah, war weggetreten, hörte alles nur noch aus der Ferne und konnte am Geschehen um mich herum nicht mehr teilnehmen. Wenn ich Treppensteigen musste, war es mir, als hätte ich einen 1000-Meterlauf in Rekordzeit gelaufen, dabei war ich nur vom Parterre in den ersten Stock gestiegen. Was heisst vom Parterre? Meist schaffte ich nicht einmal mehr dies! Ich musste mich am Treppengeländer festklammern, um nicht in die Tiefe zu springen, daher schaffte ich es mit Mühe und Not vom ersten Stock zum Zwischenboden. Da musste ich mein Unterfangen hinauszugehen abbrechen und schleppte mich zurück in die Wohnung, musste mich hinlegen, krümmte mich vor Magenschmerzen, hatte unglaubliche panische Ängste und war komplett erschöpft. Ich verliess die Wohnung nicht mehr - konnte sie nicht mehr verlassen! 

Dann hätte ich wieder zum Arzt gemusst! Ich konnte nicht! Es war unmöglich, und ich musste absagen. Dies dreimal! Mittlerweile nahm ich am Leben meiner Umwelt nicht mehr teil. Sprach mich jemand an, nahm ich dies zwar wahr, konnte es aber nicht einordnen oder verarbeiten, geschweige denn reagieren. Es war der Horror! Und täglich fiel ich tiefer! Meine Partnerin arbeitete und so war ich tagsüber alleine in der Wohnung. Ich hatte von morgens bis abends ununterbrochen panische Ängste, schaffte keinen Fuss mehr vor die Tür und lag den ganzen Tag gekrümmt vor Schmerz im Bett. Eine Besserung war nicht abzusehen - im Gegenteil! 

Wo war nur die Stimme, die mir im Juni noch Heilung versprach? Wo war sie? - Ich fiel weiter! Ein Sog zog mich förmlich in die Tiefe! Es wurde schwarz um mich, und ich wurde völlig teilnahmslos und unberechenbar! Ein winzig kleiner Teil in mir, der die Kontrolle noch behielt, mahnte mich zur Vorsicht. Ich hätte dem Leben ohne zu zögern ein Ende setzen können! 

Ich musste hier raus! Aber wohin? Es gab zwei Alternativen: in eine Klinik, und zwar schleunigst, oder zu meinen Eltern in eine andere Stadt. Ich entschied mich für die zweite Lösung. Sie kamen schnell, um mich abzuholen. Aber so schnell war ich nicht weg: Ich brauchte zehn Anläufe. Ich schaffte es immer wieder nur bis zum Zwischenboden und musste dann mit Panikattacken umkehren und mich hinlegen. Dann machte ich unter Zureden meiner Eltern wieder einen Anlauf - das gleiche wieder. Erst beim zehnten Versuch schaffte ich es ins Auto einzusteigen, schloss die Augen, um meine Umwelt nicht wahrnehmen zu müssen und fuhr mit! Es ging mir wirklich schlecht, aber ich war lange noch nicht am tiefsten Punkt!

Ein Jahr wohnte ich bei meinen Eltern, suchte, wenn es ging, den Arzt auf und begann eine Psychotherapie. Meist telefonierte ich jedoch mit dem Arzt, da ich das Haus immer noch nicht verlassen konnte. Die Psychotherapeutin war der Hammer: Als ich ihr schilderte, wie es mir ging, war sie sofort bereit die therapeutischen Sitzungen bei meinen Eltern abzuhalten. Zweimal wöchentlich. Da sie kein Auto hatte, holte sie meine Mutter am Bahnhof ab und brachte sie nach der Sitzung wieder dahin zurück. 

So ging es Monate! Bereits ein Jahr zuvor, hatte ich einmal ein schwarzes depressives Erlebnis, als ich in Frankreich an einer Schleuse sass. Plötzlich wurde es mir schwarz vor Augen, und ich trat innerlich weg. Auch damals kam panische Angst in mir auf und ich wusste nicht wie mir geschah, hatte keinen Bezug mehr zum Leben und nahm nichts mehr wahr. Diese depressiven Schübe waren jetzt wieder da, noch intensiver, länger und kolossaler! 

Meine Eltern wohnten neben einer Bahnlinie, die nur durch eine durchlässige Hecke vom Grundstück getrennt war. In solchen Momenten der Depression zog es mich sogartig unter den Zug! Nur der kleine Funke in mir, der noch realisierte wer ich war, verhinderte den Gang ... und auch dies nur mit Mühe und grösstem Aufwand! 

Dann kam Hilfe: Erinnern Sie sich, ich habe Ihnen drei Ereignisse aus meinem Leben erzählt, die nicht zum Thema meiner Geschichte passen: Der Fussmarsch über den Pass in Norwegen in meinen Jugendjahren, die Ferien im kleinen Häuschen im Tessin und die Wanderung im Jura. Diese Erinnerungen kamen mir zu Hilfe und boten mir einen Anker in der Not! Die Wanderung im Jura hatte die stärkste Ausstrahlung, dann die Ferien im Tessin und schliesslich der Gang über den Pass. Immer wenn ich nun ins Loch stürzte und den Ausweg nur noch im Ende unter dem Zug sah, holte ich mir eines dieser Erinnerungsbilder. Ich liess mich nochmals teilhaben am Bild der Bauern auf dem Feld, der religiösen Gemeinschaft, der fröhlichen Hochzeitsgesellschaft, dem Blick über das Tal und den Kommentaren van Goghs. Es waren traurige Bilder, entstanden in einer bereits traurigen Zeit, aber sie halfen mir zu überleben! Immer wieder musste ich sie aus der Tiefe holen, damit ich nicht Schluss machte! 

Nachts konnte ich nicht schlafen und hatte immer den gleichen Traum: Ich irrte im Estrich herum und fand keinen Ausweg! Tagsüber war ich erschöpft und müde, schlief zehn Minuten, erschrak oft und dämmerte vor mich hin mit unsäglichen Magenschmerzen, die ich während den folgenden zwölf Jahren nicht mehr los wurde! Dann stürzte ich wieder ab, rettete mich mit den Erinnerungsbildern - Tag für Tag! 

Mit meiner Therapeutin versuchte ich Monate später wieder das Haus zu verlassen. Ich war so erschöpft und hatte nach Monaten immer noch dermassen Stresssymptome, dass ich nicht richtig gehen konnte. Für fünfhundert Meter Gang brauchte ich sechzig Minuten! Ich schaffte es nicht mehr, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Ich war zu erschöpft und kam ausser Atem! 

Nach einem Jahr ging es mir allmählich besser! Ich unternahm langsam wieder Fussmärsche von zwei Kilometern Länge, zuerst in Begleitung, dann einzelne Male alleine, immer in Sichtkontakt mit einer rettenden Person. Die Depressionen und Ängste aber blieben! Mein voriger Arbeitgeber hatte mich nach zwei Monaten Krankheit, unter Berufung des Gesetzes, längst entlassen und so brauchte ich mir um die nötige Erholungszeit keine Gedanken zu machen. Ich lebte von zwei Arbeitsausfallversicherungen: Die eine musste zwei Jahre zahlen und die andere, kleinere bis zum Ablauf der Versicherung. 

Dieser Zustand dauerte sechs Jahre!